In den Klauen der Mafia

Der türkische Fußball steckt im tiefen Skandalsumpf, in den nun auch Nationaltrainer Ersun Yanal geraten ist. Für ihn geht es in den WM-Qualifikationsspielen heute und am Mittwoch um den Job

AUS ISTANBUL TOBIAS SCHÄCHTER

Und dann lag neulich auch noch Jupp Derwall im Koma, jedenfalls im Glauben der Leser einer täglich erscheinenden türkischen Sportzeitung, die diese spektakuläre Meldung exklusiv präsentierte. Sie war schon deshalb exklusiv, weil sie schlichtweg nicht der Wahrheit entsprach. Der ehemalige Erfolgstrainer von Galatasaray Istanbul ließ sich wegen einer starken Grippe zwar umfassend in einem Krankenhaus untersuchen, von einem komatösen Zustand aber war der einstige deutsche Bundestrainer weit entfernt.

Gerüchte dominieren die Sportberichterstattung in der Türkei seit jeher. Stören tut sich daran kaum jemand in einem Land, dessen Bevölkerung aus Bequemlichkeit mehr an Gerüchten interessiert sei als an Wahrheiten, wie jüngst ein einflussreicher Kolumnist konstatierte. Wie auch immer: Im Vorfeld zweier Qualifikationsspiele zur Weltmeisterschaft 2006 am Samstag gegen Albanien und am Mittwoch in Georgien, die darüber entscheiden, ob der noch vor zwei Jahren so stolze WM-Dritte Türkei endgültig das Rennen um ein WM-Ticket verliert, geht es in der Fußballszene des Landes wieder einmal drunter und drüber. Und so manchem spielte es in die Hände, wenn die ein oder andere Wahrheit weiterhin unausgesprochen bliebe.

Im Mittelpunkt der jüngsten Skandale steht dabei ausgerechnet der bislang bestens beleumundete Nationaltrainer Ersun Yanal, der nach dem Scheitern in der letzten EM-Qualifikation als neuer sportlicher und vermeintlich integrer Hoffnungsträger Senol Günes ablöste. Vor drei Jahren soll Yanal als Trainer des Erstligisten Ankaragücü nicht nur Siegprämien aus dubiosen Quellen an der Steuer vorbei an Spieler verteilt, sondern auch selbst kassiert sowie einen großen Teil seines Gehalts nicht beim Fiskus angegeben haben. In gewohnter Mauschelmanier eröffnete der Verband keine Untersuchung, schließlich sei alles verjährt. Doch vor dem längst eingerichteten Fußball-Untersuchungsausschuss des Parlaments musste Yanal antanzen, wo er alle Vorwürfe bestritt. Der sichtlich angeschlagene Trainer soll nun auf Druck des Finanzministeriums seine gesamten Vermögensverhältnisse offen legen, ihm droht ein Strafverfahren. Mehr noch: Auch die Finanzbuchhaltung aller Profivereine soll durchleuchtet werden. Besonders pikant dabei: Den Stein ins Rollen brachte ein Fernsehinterview mit Cafer Aydin, einem ehemaligen Spieler Yanals bei Ankaragücü.

Zudem sorgen weitere Enthüllungen für Aufsehen, die den deutschen Schiedsrichterskandal wie eine Petitesse erscheinen lassen. Im Zuge der Verhaftung des Mafiapaten Sedat Peker im letzten Herbst kamen Tonbandaufnahmen ans Licht, die unter anderem auch Besiktas Istanbul ins Zentrum eines Manipulationsskandals rücken. Besiktas steht schon lange im Zwielicht, halfen doch einst Funktionäre des Klubs Alaattin Cakici, den mächtigsten aller türkischen Mafiabosse, außer Landes zu bringen. Für Zündstoff sorgte in diesem Zusammenhang jüngst auch die Vernehmung des angesehenen ehemaligen Erstligatrainers Adnan Dincer, der behauptet hat, 90 Prozent aller Vereine seien mit Wissen von Verbandsfunktionären in mafiose Machenschaften verstrickt. Vernichtend fiel zudem eine Zwischenbilanz von Ahmet Ersin, dem Vizepräsidenten des Parlamentsausschusses, aus. Der Politiker resümierte: „Nach unseren bisherigen Erkenntnissen ist der Fußball ein Paradies für Spielabsprachen, Prämienzahlungen und die Mafia.“

Dass der angezählte Yanal in den beiden anstehenden Partien auf die verletzten Stammkräfte Nihat und Servet verzichten muss, gerät angesichts dieser Turbulenzen in den Hintergrund. Eines aber scheint sicher: Sollte der nach der Ausmusterung der Stürmerlegende Hakan Sükür und der 0:3-Niederlage gegen die Ukraine bei großen Teilen der Medien auf der Abschussliste stehende Yanal seine verunsicherte Mannschaft nicht auf Erfolgskurs bringen, wird der zwischen den Fronten lavierende Verbandsboss Levent Bicakci den bis 2008 gebundenen Coach nicht länger halten können.

Ob sich damit aber der rasante Absturz der vermeintlichen Fußballgroßmacht in die Drittklassigkeit eines jammernden WM-Zuschauers aufhalten lässt, darf bezweifelt werden. Der türkische Fußball ist ein scheinbar nicht auszutrocknender Sumpf aus Hybris, lähmenden Machtkämpfen zwischen den drei mächtigen Istanbuler Klubs Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas sowie der unseligen Verflechtung mit der Mafia. Das ist die traurige Wahrheit, die auch Jupp Derwall wirklich wehtun dürfte. Derwall übrigens sagte einer anderen Zeitung einige Tage nach der Falschmeldung: „Mir geht es gut.“ Was tags darauf auch in besagter Sportzeitung zu lesen war – allerdings klein gedruckt, gut versteckt und gar nicht exklusiv.